Gerhard Lenz
med@praxis-lenz.at
Unter Menschenbild in der Psychotherapie kann man Annahmen über den Menschen verstehen, welche Grundlagen für psychotherapeutische Theorien und psychotherapeutisches Handeln liefern. Die verschiedenen Psychotherapierichtungen orientieren sich an unterschiedlichen Menschenbildern, wobei jeweils unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit unter anderem im Spannungsfeld Innenwelt versus Außenwelt und Natur versus Kultur beleuchtet werden. Diese oft divergierenden Sichtweisen dienen aber dem gemeinsamen Anliegen um die erfolgreiche Veränderung von PatientInnen im Therapieprozess (allgemeine Übersicht bei Kriz 2015).
Wampold (2001) stellt in seiner großen Psychotherapie-Debatte dem medizinischen Metamodell das kontextuelle Metamodell gegenüber. Im medizinischen Modell geht es in der Extremform nach der Ursachenforschung von Problemen oder Störungen zur Empfehlung spezifischer Veränderungsstrategien, die analog einem Medikament verabreicht werden (z.B. im Rahmen der Befolgung von Therapiemanualen, wobei die Person des Therapeuten/der Therapeutin bei überprüfter Kompetenz bzw Manualtreue auswechselbar erscheint). Dagegen gehen die Hypothesen des kontextuellen Modells von drei Wirkmechanismen der Veränderung aus: Echte Beziehung, Erwartung und Behandlungsdurchführung. Das kontextuelle Modell postuliert, dass die echte Beziehung therapeutisch sein kann. Erwartungshaltungen wirken auch in der Psychotherapie auf vielfältige Weise (Psychotherapie beginnen, Bedeutung der Vermittlung von Hoffnung in den ersten Therapiesitzungen, schulenspezifische Erklärungssysteme für Störungen,….). In der Behandlungsdurchführung werden im kontextuellen Metamodell nicht bestimmte Defizite vorausgesetzt, die durch bestimmte Strategien geheilt werden, sondern dass die spezifischen Bestandteile aller Therapien den Patienten veranlassen, etwas allgemein Heilsames zu tun (z.B. vermehrte körperliche Aktivität, mehr soziale Interaktionen, Veränderung von Kognitionen, Reduktion von Vermeidungsverhalten,…..).
Das Menschenbild der Verhaltenstherapie beruht auf den Erkenntnissen der Natur-und Sozialwissenschaften wie Psychologie, Biologie, Medizin, Soziologie und schließt vor allem die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und der Psychiatrie über Gesundheit und Krankheit und die Bedeutung von Beziehungen für die gesunde und krankhafte Entwicklung ein. Übersichten finden sich bei Egger 2015, Parfy & Lenz 2018 , Parfy et al 2016, Petzold 2015 und Wagner 2021.
Ursprüngliche einfache Modelle basierten vor allem auf den Lerntheorien (Auslöser und Konsequenzen von beobachtbarem Verhalten) mit Konsequenzen für die Behandlung von Angststörungen (klassische und operante Lerntheorie). In der weiteren Folge wurden anhand der Depressionsbehandlung dysfunktionale Denkmuster beschrieben und kognitive Theorien entwickelt (kognitive Wende). In der Weiterentwicklung vor allem der Persönlichkeitsstörungen mit der Schematherapie wird die Therapiebeziehung als therapeutisches Agens und die nicht bewussten Anteile bei frühen maladaptiven Schemata und bei den Modi besonders betont. Während Emotionen ursprünglich nur als Bewertung von physiologischen Erregungen angesehen wurden, wurde mit der emotionalen Wende die Wichtigkeit und Eigenständigkeit vom Emotionen beschrieben. Verhalten im Sinne der modernen Verhaltenstherapie heißt also immer das Zusammenspiel von körperlicher Symptomatik, Gedanken, Gefühlen und beobachtbarem Verhalten und das in Beziehung zur Umwelt bzw Beziehung zu Anderen.
Wichtige neurobiologische Grundlagen für unsere physische und psychische Entwicklung. Die Neurowissenschaften gehen davon aus, dass die Entwicklung der Psyche und Persönlichkeit aufs Engste mit der Entwicklung des Gehirns zusammenhängt. Dieser Prozess wird von verschiedenen Faktoren bestimmt, nämlich von den Genen und epigenetischen Regulationsmechanismen, von vorgeburtlichen Einflüssen des Gehirns und des Körpers der Mutter auf das Gehirn des Fötus , von nachgeburtlichen Erfahrungen und schließlich von weiteren Sozialisationsprozessen und individuellen Erfahrungen. Für das Verständnis des Gehirns ist das Wissen über die Erregungs- und Informationsverarbeitung zwischen den Nervenzellen (Kommunikation über elektrische Impulse und über chemische Botenstoffe) von grundlegender Wichtigkeit. Chemische Botenstoffe wie GABA, Glycin, Glutamat, Serotonin, Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin, sowie Neurohormone wie Oxytocin und Cortisol und die sogenannten hirneigenen Drogen wie Opioide und Cannabinoide bestimmen unser psychisches Geschehen. Roth (2021) unterscheidet folgende psychoneurale Grundsysteme, die sich in Interaktion zwischen Anlage und Umwelteinflüssen entwickeln: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bewertung und Motivation , Bindung und Empathie , Impulshemmung , Realitätssinn und Risikowahrnehmung . Diese sechs psychoneuralen Grundsysteme legen nach Roth (2021) in ihrer individuellen Ausprägung Temperament und Persönlichkeit eines Menschen fest. Weiterführende Überblicke zu neurobiologischen Grundlagen finden sich z.B. bei Siegel 2010 und Strüber 2021.
Grundbedürfnisse, Motive und Konflikte : Grawe (2004) beschreibt in seinem konsistenztheoretischen Modell des psychischen Funktionierens vier menschliche Grundbedürfnisse: Das Bedürfnis nach Bindung zu primären Bezugspersonen, nach Lustempfinden und Unlustvermeidung, das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, , das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. Aus diesen Grundbedürfnissen lassen sich Werte, Pläne und Ziele ableiten, die dann unser Handeln bestimmen. Die Verletzung von Grundbedürfnissen kann zu Schädigung der Gesundheit oder Wohlbefinden führen. Denken, Fühlen und Handeln spielen sich aber nicht nur auf der Bewusstseinsebene ab, auch früh entstandene unbewusste Motive spielen eine wesentliche Rolle: Innerhalb unterschiedlicher Motive kann es zu unbewussten Konflikten kommen oder auch zu Konflikten zwischen unbewussten Motiven und bewussten Zielen, mit der Folge, dass Menschen bei der Verfolgung und Erreichung eines bewussten Zieles keine Befriedigung erfahren.
Die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen:
Wie wir uns sozial und emotional entwickeln hängt zu einem wichtigen Teil von unseren frühen Bindungen ab. Sowohl die Gene als auch die ersten Erfahrungen im Mutterleib und nach der Geburt beeinflussen, wie ein Kind auf seine Umwelt reagiert. Epigenetische Veränderungen während der Schwangerschaft haben ebenso Einfluss auf die Entwicklung neuronaler Netzwerke und damit unter anderem auch wie sich das Stresssystem des Kindes langfristig entwickelt.
Vieles deutet darauf hin, dass die frühen Erfahrungen mit der Umwelt- vor allem die Qualität der Beziehung zu engen Bezugspersonen- individuelle Unterschiede in der endokrinen und neuronalen Stressreaktion bedingen, die dann bis ins Erwachsenenalter anhalten. Sie beeinflussen, wie schnell sich ein Kind später aufregt oder wieder beruhigt und wie gut es mit belastenden Situationen umgeht. Eine liebevolle Bindungsperson, die tröstet, umarmt, stützt und das diffuse Unwohlsein des Säuglings benennt, kann die neuronalen Netzwerke zur Emotionsregulation stärken. Das bildet sich auch auf einer chemischen Ebene ab: Der Botenstoff Oxytocin dämpft die Aktivität der Amygdalae und hemmt die Freisetzung von Stresshormonen. Bowlby (1975) beschrieb für den weiteren Verlauf verschiedene Bindungsstile, den sicheren, den vermeidenden, den ambivalenten und den desorganisierten Bindungsstil. Für diese unterschiedlichen Bindungsstile konnten größtenteils auch schon neurobiologische Entsprechungen nachgewiesen werden (Kapfhammer 2022). Einmal etablierte Bindungsstile haben eine hohe Stabilität für das weitere Leben, obwohl korrigierende Neuerfahrungen -z.B. durch eine komplementäre Beziehungsgestaltung – Veränderungen möglich machen können.
Funktion und Nutzung der therapeutischen Beziehung:
Die Therapiebeziehung ist einerseits wichtig als Arbeitsbündnis (Allianz), andererseits auch als therapeutisches Instrument. Das Arbeitsbündnis ist eine notwendige Voraussetzung für die Bereitschaft des Patienten zur Behandlung und der Möglichkeit der Anwendung spezifischer therapeutischer Techniken.. Die Therapiebeziehung kann aber auch als Instrument gesehen werden, welches eine direkte therapeutische Wirkung im Sinne einer korrigierenden emotionalen Neuerfahrung hat. Caspar (2007) spricht hier von der komplementären Beziehungsgestaltung, Young (2008) vom Konzept der begrenzten Elternschaft („limited reparenting“), in der CBASP (McCullough 2000) wird auf die Wahrnehmung des Unterschieds zwischen Therapeutenverhalten und dem früheren Verhalten prägender Bezugspersonen hingewiesen. In der therapeutischen Beziehung werden oft Schemata aktiviert , die dann erkannt und bearbeitet werden können. Durch das Verhalten des Patienten können beim Therapeuten Gegenübertragungsgefühle ausgelöst werden, die denen ähneln, die der Patient auch bei anderen Menschen auslöst. Hier kann eine entsprechende Rückmeldung durch den Therapeuten hilfreich in der Bearbeitung dieses Verhaltens sein.
Die folgenden Kernannahme verhaltenstherapeutischer Ansätze sind jede für sich allein genommen natürlich sehr reduktionistisch, kommen aber in der modernen Verhaltenstherapie meist gemeinsam mit unterschiedlichen Schwerpunkten zur Anwendung.
Der Mensch als Objekt äußerer Bedingungen (klassische Lerntheorien):
Die Lerntheorien: Die Untersuchung von Lernvorgängen erbrachte erste Impulse zur Entwicklung der Verhaltenstherapie und das daraus hervorgegangene Wissen ist nach wie vor wichtig für unser Verständnis des Menschen. Das Erkennen von Zusammenhängen ist ein wichtiges Ziel unserer Lernbereitschaft und dient in der Menschheitsgeschichte unmittelbar dem eigenen Überleben.
Man kann drei Formen des Lernens unterscheiden: einmal. dass bei bestimmten wahrzunehmenden Reizen eine bestimmte Folge eintreten kann. Diesem Prinzip folgt das klassische Konditionieren, das besagt, dass an sich neutrale Reize durch zeitliche und räumliche Koppelung mit wichtigen Ereignissen eine Signalfunktion bekommen und ein bestimmtes Verhalten auslösen können.
Die zweite Form des Erkennens und Erlernens von Zusammenhängen betrifft die Konsequenzen, die bestimmten Verhaltensweisen nachfolgen. Dieses „operante Konditionieren“ besagt, dass spontan gezeigtes Verhalten aufgrund der nachfolgenden Bedingungen in seiner Auftretenswahrscheinlichkeit beeinflusst wird. Die dritte Form des Erkennens von Zusammenhängen, das „Modelllernen“, beschreibt dass Menschen durch Beobachtung von anderen Menschen lernen können. Auch beim Modellernen muss kritisch angemerkt werden, dass wir beim Modellernen nicht nur 1:1 übernehmen sondern auch eigene Anteile einbringen, nach dem Motto, dass ein guter Schüler seinen Meister übertrifft (konstruktivistische Ansätze des Lernens).
Diese einfachen Lernprinzipien sind zwar in der Menschheitsgeschichte von hohem Überlebenswert, aber für unser Verhalten spielen auch innere Einflussfaktoren wie Gedanken und Gefühle eine wichtige Rolle und diese Einflussfaktoren können Lernprinzipien auch ins Gegenteil verkehren wie z.B. bei einem politischen Dissidenten, der oder die trotz der zu erwartenden negativen Folgen ein bestimmtes Verhalten für wichtig und im Einklang mit eigenen Prinzipien und Haltungen zeigt.
Durch diese Lernprozesse werden innerpsychische Strukturen aufgebaut, die als „Schemata“ Eingang in die Verhaltenstherapie gefunden haben und vorhandene Erfahrungen heranziehen um aktuelles Verhalten auszurichten.
Der Mensch als rationales, handlungsorientiertes Wesen (kognitive Theorien):
In diesem Ansatz wird der Mensch als rationales, reflexionsfähiges und handlungsfähiges Subjekt gesehen. Aus der kognitiven Verhaltenstherapie spielen hier vor allem die kognitive Therapie nach Beck, die rational-emotive Therapie nach Ellis , der Selbstverbalisationsansatz von Meichenbaum und der Selbstmanagement Ansatz von Kanfer eine wichtige Rolle. Das kognitive Modell besagt, dass Gefühle und Verhalten von Personen durch deren Wahrnehmung von Ereignissen beeinflusst werden. Nicht die Situation an sich beeinflusst die Gefühle einer Person, sondern die Art und Weise wie die Person sie interpretiert. Abhängig von der gedanklichen Interpretation der Situation können ganz unterschiedliche Gefühle und daraus folgendes Verhaltens entstehen. Es wird an den sogenannten „heissen“ Gedanken gearbeitet,das sind diejenigen Kognitionen,die mit besonders intensiven Emotionen einhergehen. Im kognitiven Ansatz unterscheidet man drei Ebenen von Gedanken: An der Oberfläche sind die automatischen Gedanken, das sind plötzlich auftretende Gedanken, Worte, Erinnerungen oder Vorstellungen. Auf einer mittleren Ebene sind die bedingten Annahmen; dabei handelt es sich um Glaubenssätze, die über verschiedene Situationen unser Leben lenken und leiten (Sollte-Behauptungen und wenn-dann Sätze). Auf einer tiefsten Stufe finden sich die Grundannahmen (Schemata).Diese Schemata sind von grundlegender Bedeutung bei PatientInnen mit Persönlichkeitsstörungen. Das individuelle Zusammenwirken von auslösenden Bedingungen, Gedanken, Gefühlen, körperlichen Faktoren sowie Reaktionen und Verhalten wird in der Fallkonzeption erfasst. Ziel der therapeutischen Ansätze ist es hier, den Patienten dabei zu unterstützen, eine erhöhte Selbststeuerungsfähigkeit zu erwerben.
Gefühle und Gedanken, Schemata: Das lebensgeschichtlich früh entstandene emotionale Verarbeitungssystem orientiert sich grob nach Lust- und Unlustempfindungen und reagiert sehr schnell z.B. bei möglichen Gefahren. Demgegenüber wird das Denken als aktiv gerichtete Tätigkeit erlebt, die aber relativ langsam abläuft. Gefühle und Gedanken stehen in ständiger Wechselwirkung und können auch in eine Diskrepanz zueinander geraten bis hin zur Dissoziation oder Desintegration des Erlebten ,die besonders bei traumatisierenden Erfahrungen vor psychischer Überlastung schützt. Die Grundgefühle wie z.B. Angst, Trauer, Wut und Freude haben einerseits orientierende Funktionen nach innen (Angst: Distanz und Schutz, Trauer: Loslösung von Bindungen, Wut: Grenzziehung, Freude: Annäherung und Herstellung neuer Bindungen) und richten andererseits den Organismus auf bestimmte Verhaltensweisen aus, die mit kommunikativen Signalen nach außen verbunden sind (Gestik, Mimik, Sprache, Verhalten).Diese Grundgefühle basieren auf genetisch vorbereiteten biologischen Prozessen, die aber im Laufe der Entwicklung erweitert und ausdifferenziert werden. Im Rahmen positiver oder negativer lebensgeschichtlicher Erfahrungen entstehen durch neuronale Netzwerke verkörperte Organisationseinheiten, die den Organismus auf spezifische Weise zur Umgebung hin ausrichten . Diese Organisationseinheiten können als Schemata bezeichnet werden. Young (2008) beschrieb fünf dysfunktionale Schemata-Domänen (Abgetrenntheit und Ablehnung, Beeinträchtigung von Autonomie und Leistung, Fremdbezogenheit, übertriebene Wachsamkeit und Gehemmtheit und Beeinträchtigung im Umgang mit Begrenzungen), die durch mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen in der Kindheit (Bindung, Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Unlustvermeidung, Selbstwerterhöhung) entstehen würden. Schemata werden durch bestimmte Auslösereize aktiviert („getriggert“) und führen dazu, die gegenwärtige Situation nach dem Muster vergangener Erfahrungen zu strukturieren und auch bestimmte Erwartungen an die Zukunft zu richten. Als ein zentraler Wirkprozess in der Therapie ist die wiederholte Aktivierung der bisher als nicht bewältigbar erfahrenen Affekte bei gleichzeitiger kognitiver Verarbeitung anzusehen.
Implizites Gedächtnis und psychische Störungen (Das „Unbewusste“ in der Verhaltenstherapie):
Das explizite Gedächtnis betrifft bewusste Erinnerungen an Erlebnisse, Ereignisse oder an Menschen Das implizite Gedächtnis funktioniert automatisch und unbewusst wie z.B. beim Skifahren oder bei Gewohnheitshandlungen oder bei unmittelbar auftauchenden Affekten. Die weitgehend automatisierte Aufnahme komplexer Erfahrungen- so genanntes implizites Lernen, das unterhalb der Bewusstseinsschwelle abläuft- stellte eine Wissensbasis zur Verfügung, die schnelles Reagieren erlaubt. Die zum impliziten Gedächtnis gehörenden Funktionen und Strukturen existieren bereits im Säuglingsalter, während das explizite Gedächtnis erst im Verlauf des zweiten bis vierten Lebensjahres ausreift. Es gibt Hinweise, dass die frühen Bindungserfahrungen internalisiert und als Teil des impliziten Gedächtnisses gespeichert werden. (Schneider 2021). Grawe (1998) beschreibt motivationale Schemata als Teil des impliziten Gedächtnisses, die der Erreichung (Annäherungsschemata) oder dem Schutz (Vermeidungsschemata) der Grundbedürfnisse dienen. Funktionscharakteristika von dysfunktionalen Schemata in der Schematherapie nach Young weisen eine hohe Übereinstimmung mit den Merkmalen des impliziten Gedächtnisses auf (automatische und schnelle Aktivierbarkeit, starke Filterung der Wahrnehmung, schlechte Kontrollierbarkeit und das Gefühl zwingend so handeln zu müssen). In der Psychotherapie ist es somit wichtig, lange gebahnte implizite Gedächtnisspuren zu unterbrechen und zu hemmen und parallel korrektive Neuerfahrungen zu ermöglichen und neues Verhalten aufzubauen (Schneider 2021). Auf wichtige Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Verhaltenstherapie und psychodynamischen Therapien in diesem Bereich weist Benecke (2016) hin.
Konzepte der therapeutischen Beziehung mit Übertragungs- und Gegenübertragungs-prozessen und der Umgang mit Widerstand sind in der modernen Verhaltenstherapie zunehmend etabliert: so gibt es z.B. in der CBASP (McCullough 2000) die Technik des disziplinierten persönlichen Einlassens und die Übertragungshypothese, in der Schematherapie das Konzept maladaptiver Bewältigungsmechanismen, Schemamodi und dysfunktionaler Schemata, bei der Traumatherapie die Verschiebung von belastenden Erlebnissen die nicht bewusst verarbeitet werden können ins implizite Gedächtnis. Bei impliziten Gedächtnisvorgängen sind die Inhalte nicht unmittelbar erinnerlich und können erst über Assoziationsbrücken, die mit der ursprünglichen Erfahrung zusammenhängen zugänglich gemacht werden. So wird z.B. in der großen Schemaübung in einer Vorstellungsübung ausgehend von einer gegenwärtigen problematischen Situation durch Fokussierung auf die Emotionen über Assoziationsbrücken auf ähnliche Emotionen in der Kindheit mit relevanten Bezugspersonen übergeleitet und die damals nicht ausreichend erfüllten Grundbedürfnisse des Kindes bearbeitet. Die damit verbundenen Bewältigungsstrategien werden dann in die gegenwärtige Situation übernommen.
Für die Verhaltenstherapie gilt also nicht nur das rationale Menschenbild wie es Kämmerer (2020) durchaus kritisch formuliert: „ die Idee des Menschen, der rational und zielgerichtet handelt, Motivation zur Zielerreichung entwickelt und schließlich die Ziele realisiert, indem er sich angemessene Mittel zur Zielerreichung aneignet und in einer sich wandelnden Innen-und Außenwelt prozessbegleitend überprüft“. Das Irrationale, Unbewusste und Intuitive des Menschen würde hier also ausgeblendet. „Bei der heutigen Methodenvielfalt der Verhaltenstherapie entsteht unweigerlich der Eindruck, dass dieses rationale Menschenbild in der Verhaltenstherapie ausgedient hat. Anders ist der Siegeszug achtsamkeitsbasierter und schemaorientierter Therapiemodelle nicht denkbar“ (Kämmerer 2020).
Von den Persönlichkeitstypologien zum „Strukturniveau“: ein Ausblick in die Zukunft?: Bisherige Persönlichkeitstypologien werden in den kategorial abgegrenzten Persönlichkeitsstörungen im DSM-IV und ICD-10 beschrieben. Beck (1993) beschreibt die für jede Persönlichkeitsstörung typischen kognitiven Profile. Nach Young (2008) sind dysfunktionale Schemata die Grundlage von Persönlichkeitsstörungen und die in den Diagnosekriterien beschriebenen Verhaltensmuster sind primär Reaktionen auf diese Schemata. Im DSM-5 (APA 2015) und in der ICD-11 (Herpertz 2018) haben nun Aspekte der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, Arbeitskreis OPD 2006) mit ihrer Strukturachse Eingang in die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen gefunden. So werden im DSM-5 im Kriterium A für Persönlichkeitsstörungen verschiedene Funktionsniveaus der Persönlichkeit in Bezug auf das Selbst und auf interpersonelle Beziehungen unterschieden. Ähnlich sind in der ICD-11 solche unterschiedlichen Funktionsniveaus die Grundlage für die Einteilung der Persönlichkeitsstörungen nach dem Schweregrad in leicht, mäßig und schwer. Die Zukunft wird zeigen, welche Folgen dies für die Forschung und Therapie in der Verhaltenstherapie haben wird.
Literatur:
American Psychiatric Association (2015): DSM-5. Göttingen, Hogrefe
Arbeitskreis OPD (2006): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Bern,Huber
Beck A.T. (1993): Kognitive Therapie der Persönlichkeitsstörungen; Weinheim PVU
Benecke C. (2016): Psychodynamische Therapien und Verhaltenstherapie im Vergleich; Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
Bowlby J.(1975): Bindung; Frankfurt,Fischer
Caspar F. (2007): Beziehungen und Probleme verstehen; eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse. Bern, Huber
Egger J.W. (2015): Menschenbildannahmen in der verhaltenstheoretischen Psychotherapie. In : H.Petzold (Hrsg): Menschenbilder in der Psychotherapie, Seite 447-480; Bielefeld, Aisthesis-Verlag
Grawe K.(1998): Psychologische Therapie. Göttingen, Hogrefe
Grawe K. (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen, Hogrefe
Herpertz S. (2018): Neue Wege der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen in ICD-11. Fortschr Neurol Psychiatr 86(03):150-155
Kämmerer A. (2020): Nachdenken über Psychotherapie; In M.Rufer, C.Flückiger (Hrsg): Essentials der Psychotherapie; Seite 47-48; Bern, Hogrefe
Kapfhammer H.P. (2022): Psychobiologie von Bindung und Trauma-Teil 2: sichere, unsichere und desorganisierte Bindung. Jatros Neurologie & Psychiatrie 1: 36-42
Kriz J (2015): Menschenbilder in der Psychotherapie-eine schulenübergreifende Perspektive auf grundlegende Aspekte psychotherapeutischer Diskurse. In: H.Petzold (Hrsg) (2015): Menschenbilder in der Psychotherapie, Seite 133-155; Bielefeld, Aisthesis-Verlag
McCullough J.P.(2000): Psychotherapie der chronischen Depression (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy-CBASP); München, Urban&Fischer
Parfy E, Schuch B, Lenz G (2016): Verhaltenstherapie
Parfy E, Lenz G (2018): Menschenbild. In :J.Margraf, S.Schneider (Hrsg): Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 1 ,Seite 51-67; Berlin, Springer
Roth G.(2019): Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern; Stuttgart, Klett-Cotta
Schneider R (2021): Bedingungen psychischer Störungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive; In S.Fliegel et al (Hrsg): Verhaltenstherapie, Seite 453-475; Tübingen, DGVT-Verlag
Siegel D.J.(2010): wie wir werden die wir sind: neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens & die Entwicklung des Menschen in Beziehungen; Paderborn, Junfermann
Strüber N (2021): wie ich wurde, was ich bin; Gehirn & Geist 2, 31-37
Wagner R.F. (2021): Anthropologische Kernannahmen verschiedener psychotherapeutischer Ansätze; In S.Fliegel et al (Hrsg): Verhaltenstherapie; Seite 41-48; Tübingen, DGVT-Verlag
Wampold B.E., Imel Z.E., Flückiger C (2018): Die Psychotherapie-Debatte; Bern, Hogrefe
Young J.E., Klosko J.S. & Weishaar M.E. (2008): Schematherapie . Paderborn, Junfermann