Manuela Wild
- Theorie
Menschen sind soziale Wesen, die in ständiger Interaktion mit ihrem Umfeld leben, um eigene Wünsche und Bedürfnisse zu verwirklichen. Die Angst vor sozialen Kontakten und Bewertungen durch andere stellt daher ein altbekanntes Phänomen in der Geschichte der Menschheit dar. Gerade in der heutigen leistungs- und „performanceorientierten“ Gesellschaft bestimmt häufig die soziale Kompetenz über berufliches und persönliches Ansehen. Menschen, die ihr eigenes soziales Verhalten als ungenügend bewerten und befürchten, deshalb von ihrem Umfeld ausgelacht oder beschämt zu werden, vermeiden als Folge für sie gefährliche Situationen und ziehen sich immer mehr zurück. Daraus kann ein großer Leidensdruck bei den Betroffenen entstehen. Hier setzt das Training der sozialen Kompetenzen an, um Vermeidungsverhalten abzubauen und neues selbstsicheres Verhalten zu entwickeln.
- Soziale Kompetenz
Der Begriff der sozialen Kompetenz ist ein wenig definierter Begriff um jene Anforderungen zu beschreiben, die eine Person braucht, um sich in einem gesellschaftlichen Umfeld zurechtzufinden und behaupten zu können. Gewisse Fähigkeiten scheinen für das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen entscheidend zu sein. Soziale Kompetenz geht über den Begriff der Selbstsicherheit hinaus und beschreibt das gewünschte, adäquate Sozialverhalten einer Person, „einen akzeptablen Kompromiss zwischen sozialer Anpassung und individuellen Bedürfnissen zu finden und zu verwirklichen“(Ambühl, Meier& Willutzki, 2006, S.111).
Soziale Kompetenz ist keine durchgängige Persönlichkeitseigenschaft. So kann sich beispielsweise jemand in seinem beruflichen Umfeld gut abgrenzen, aber innerhalb seiner Partnerschaft gelingt es nicht, Wünsche adäquat zu äußern.
Fydrich gibt einen Überblick von konkreten Beispielen für sozial kompetentes Verhalten (Fydrich, 2002, S.184)
Gespräche beginnen, aufrechterhalten und beenden | kooperieren |
Erwünschte Kontakte arrangieren | Anderen helfen |
Lächeln und freundlich sein | Bei Konflikten nach Lösungen suchen |
Auf Kontaktangebote reagieren | Änderungen bei störendem Verhalten verlangen |
Unerwünschte Kontakte beenden | Ungerechtfertigte Forderungen zurückweisen |
Komplimente geben und akzeptieren | Sich nicht unterbrechen lassen |
Gefühle zeigen und evtl. artikulieren | Widerspruch äußern |
Nein sagen können | Sich entschuldigen |
Auf Kritik angemessen reagieren | Schwächen eingestehen |
Sich in die Lage anderer versetzen |
- Soziale Performanz
Während mit dem Begriff der sozialen Kompetenz das Wissen eines Individuums um sozial angemessenes Verhalten verstanden wird, bezeichnet die soziale Performanz das tatsächlich gezeigte und beobachtbare Verhalten, wie Blickkontakt, Stimme, Nervosität, Körperliche Unruhe, Sprechdauer, Redefluss. Beides sind erlernte Verhaltensweisen zwischen denen ein kausaler Zusammenhang steht. Um sozial performen zu können ist die Verfügbarkeit von Wissen und Fertigkeiten der sozialen Kompetenz Voraussetzung und umgekehrt behindern angstbedingte Defizite im beobachtbaren Verhalten die Entwicklung sozialer Kompetenzen. (vgl. Fydrich, 2002)
- Soziales Kompetenztraining
Verfahren zum Aufbau sozialer Kompetenzen beruhen auf der Hypothese der sozialen Defizite. Der zugrundeliegende Gedanke ist, dass nicht gelernte soziale oder wenig geübte Fertigkeiten zu Ängsten in sozialen Situationen führen und somit durch ein Training neuer, situationsangemessener Verhaltensweisen ausgeglichen werden können.
Innerhalb der Verhaltenstherapie wurden unterschiedliche soziale Kompetenztrainings entwickelt, welche Basisfertigkeiten im sozialen, interaktiven und kommunikativen Umgang mit Mitmenschen einüben sollen. Das grundlegende Prinzip des graduierten Vorgehens verwirklicht sich im sozialen Kompetenztraining. Ausgewählte zwischenmenschliche Szenen in Rollenspielen und in Realsituationen auszuprobieren und einzuüben sind wissenschaftlich wirksame Therapietechniken.
- Entstehung
Im Laufe der Zeit haben sich aufgrund unterschiedlicher theoretischer Rahmenbedingungen zahlreiche Formen sozialer Kompetenztrainings entwickelt.
Die frühesten Formen verhaltenstherapeutischer Selbstsicherheitstrainings haben versucht die Ängste und Hemmungen selbstunsicherer Menschen primär auf der Verhaltensebene zu beseitigen. Diese gehen auf Salters (1949) „expressive training“ zurück, welches aus sechs Spontanitätsübungen besteht:
– Aussprechen von Gefühlen
– Mimisches Sprechen
– Übung in Widersprechen und Angreifen als Ausdruck der eigenen Meinung.
– Konsequenter Gebrauch des Wortes „Ich“ statt indirekter Formulierungen.
– Übung in der Zustimmung zu erhaltenem Lob oder Komplimenten.
– Übung im Improvisieren als Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen statt Vorsicht und Planung.
Daraus angeregt entstand Wolpes „Selbstsicherheitstraining bzw. Selbstbehauptungstraining oder Assertiveness-Trainings- Programm (ATP)“ (1958). Beide Konzepte haben die Pawlowsche Theorie der Klassischen Konditionierung als Ausgangspunkt genommen. Ursprünglich neutrale Reize werden durch Konditionierung zu Angst auslösenden Reizen und führen zu Vermeidungsverhalten, daraus entwickelt sich ein Teufelskreis bei den Betroffenen, denn alle Situationen, in denen die Angstreaktion durch das Ausbleiben des erwarteten, gefürchteten Reizes gelöscht werden könnte, werden vermieden. Wolpe verfolgte das Prinzip der Gegenkonditionierung oder reziproken Hemmung und setzte neben Entspannung aggressive Selbstbehauptungsreaktionen als Angst hemmendes Mittel ein. Wolpe führte das Rollenspiel in die Praxis der Verhaltenstherapie ein. Im assertiveness- Konzept wird selbstsicheres Verhalten trainiert als Mittel gegen Ängste und Hemmungen und nicht um seiner selbst willen. Für die unklare Abgrenzung zwischen selbstsicherem und aggressivem Verhalten erntete Wolpe Kritik, weshalb er Anfang der 70er Jahre aggressives Verhalten aus dem Begriff „assertiveness“ ausklammerte. Als bekannter Gegenvertreter ist hier Lazarus zu nennen, der inkompetentes Sozialverhalten auf Lerndefizite zurückführt. Basierend auf dem lerntheoretischen Ansatz entstanden die „Social Skills Modelle“ , welche sozial inkompetentes Verhalten durch das Training neuer, situationsangemessener Verhaltensweisen ausgleichen sollen. Dabei geht es nicht um Angstabbau, sondern um den Aufbau von beobachtbaren und lernbaren Verhaltensweisen und Fertigkeiten basierend auf der sozialen Lerntheorie. (vgl. Bauer, 2007)
Zu Beginn der 70er Jahre setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass neben der Überwindung der sozialen Angst und dem Aufbau sozialer Fertigkeiten zusätzlich die kognitive Variable wie Einstellung zu sich selbst, Wertungen, Selbstbewertungen und soziale Wahrnehmung ausschlaggebend für die Erreichung von Selbstsicherheit sind. Hier sind als wichtige Vertreter im deutschen Sprachraum Goldstein (1973), Lazarus (1971) und Ullrich de Muynck und Ullrich (1973) zu erwähnen.
Aufgrund der kognitiven Ausrichtung der Verhaltenstherapie gegen Ende der 70er Jahre rückten dysfunktionale Prozesse der Informationsverarbeitung als Ursache psychosozialer Störungen in den Vordergrund. Wichtige Ansätze lieferten hier Lazarus (1973), Ellis (1997) und Beck (2001).
Meichenbaum erstellte ein kognitives Modell sozialer Kompetenz und beschreibt die drei interagierenden Komponenten: Verhalten, kognitive Prozesse (Selbstverbalisation und Informationsverarbeitung) und kognitive Strukturen, welche er als das Bedeutungssystem, das die Kognitionen und Handlungen steuert, beschreibt. (Meichenbaum et al., 1981)
Die Autoren Hinsch & Pfingsten (2007) haben das Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK) entwickelt. Das Manual zum Ablauf des Standardverfahrens beschreibt sieben wöchentliche Sitzungen von jeweils 150 bis 180 Minuten plus einer Einführungsveranstaltung mit einer Teilnehmerzahl von acht bis zehn Personen bei zwei Trainern. Das zugrundeliegende Erklärungsmodell, welches zu Beginn den Teilnehmern vermittelt wird, beschreibt anhand einer konkreten Ausgangsituation kognitive und emotionale Verarbeitungsvorgänge, welche zu beobachtbaren, motorischen Verhaltensweisen führen, die als Verhaltensmuster organisiert sind.
Die daraus resultierenden Umweltreaktionen werden wahrgenommen, verarbeitet und als soziale Erfahrung im Gedächtnis abgespeichert. Wo und in welcher Form Probleme auftreten wird mit den Gruppenteilnehmern ausführlich erarbeitet.

Folgende Einteilung von Typen sozialer Situationen bildet den Hintergrund der Übungssituationen:
- Situationen (Typ R), in denen es um das Durchsetzen des eigenen Rechts geht, welches durch gesellschaftliche Normen legitimiert ist wie der Umtausch eines gekauften Artikels. (Siehe Anhang)
- Situationen (Typ B), in denen es darum geht, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder zu verbessern, sich einigen und einen Konsens finden, Aussprechen von eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, Verständnis für die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers und das offene Ansprechen eigener Unsicherheiten. (Siehe Anhang)
- Situationen (Typ S), in denen um Sympathie geworben werden soll, indem man seinen Interaktionspartner verstärkt, sein Interesse bekundet, nachfragt und Komplimente macht, dazu ist ein flexibles Reagieren auf das situative Verhalten des Gegenübers erforderlich wie es beispielsweise beim Flirten üblich ist. (Siehe Anhang)
Als Entspannungstraining wird die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen vermittelt. In jeder Trainingseinheit werden Hausaufgaben zum selbstständigen Üben vergeben und am Ende wird an alle Teilnehmer ein Stundenbogen verteilt, der den Therapeuten Feedback über das Erleben der jeweiligen Einheit geben soll.
Alsleben & Hand (Hrsg., 2006) haben als Behandlungskonzept zur Verminderung sozialphobischer Ängste und zur Erhöhung sozialer Kompetenzen das Soziale Kompetenztraining (SKT) entwickelt. Das Manual enthält einen Leitfaden über 12 Gruppentherapiesitzungen. Neben theoretischen Inputs, standardisierten und individuellen Rollenspielen und Übungen, finden sich auch therapeutenbegleitete Expositionen in vivo im Behandlungsmanual. Die Unterteilung ermöglicht es, einzelne Module ebenfalls in die Einzeltherapie einfließen zu lassen. Einleitend erfolgt der Themenbereich Angstbewältigung mit dem Motivationsaufbau, dem Baustein der soziale Phobie und der Vermittlung der progressiven Muskelrelaxation. Weitere Bausteine des sozialen Kompetenztrainings sind:
Themenbereich A beinhaltet Wahrnehmung und Diskrimination (siehe Anhang), Angstmanagement, Mittelpunktübungen
Themenbereich B bildet Kommunikation (siehe Anhang) inklusive Gesprächsführung, Kontaktaufnahme, Durchsetzungsfähigkeit mit Abgrenzungsfähigkeit, Forderungen stellen und Wünsche äußern, Kritik- und Konfliktfähigkeit, Loben.
Themenbereich C behandelt die Bearbeitung individueller Hintergrundprobleme mit Hilfe eines individuellen Problemlösevorgehens in sieben Schritten, dem Aufbau sozialer Aktivitäten und der Entwicklung eines individuellen Störungsmodells.
Zwischen den Therapieeinheiten gibt es häusliche Übungen (siehe Anhang), um die geübten Erfahrungen in den Alltag zu übertragen.
Ulrich und De Muynck (1998) haben in ihrem Assertiveness Training Programm (ATP) 127 konkrete Übungssituationen zur Angstbearbeitung formuliert, welche nach unterschiedlichen Kriterien hierarchisiert werden können. Eingeübt werden diese im Rollenspiel in der Gruppe. Anschließend werden die Übungen in vivo in Lokalen, Geschäften oder auf der Straße unter Einbeziehung fremder Personen aber auch mit Freunden, Bekannten und der eigenen Familie, umgesetzt. Um Veränderungen im sozialen Handeln und im Selbstverständnis der Gruppenteilnehmer zu erzielen und um negative Erwartungen abzuschwächen, behandeln die Autoren vier soziale Kompetenzbereiche mit ihren Übungen:
- Das Herstellen von Kontakten
- Die Angst vor Ablehnung beim „Nein“ sagen und die Angst vor Kritik.
- Das Äußern von Bedürfnissen „Fordern können“. Dabei sollen Ablehnungsängste soweit beseitigt werden, um Wünsche eindeutig äußern zu können, wie etwa „Ich sehe das anders, ich möchte das so…“
- Die zu große Rücksichtnahme und zu große Anpassung an gesellschaftliche Normen, sich Fehler erlauben und sich öffentlicher Beachtung aussetzen.
Das standardisierte Verfahren ergab einen hohen Generalisierungsfaktor, denn wer in den verschiedenen sozialen Situationen sicher ist, kann die erlangte Kompetenz auch auf andere, nicht speziell geübte Situationen übertragen.
- Ziele
Das Ziel des sozialen Kompetenztrainings ist nicht primär der Angstabbau, sondern der Aufbau von beobachtbaren erlernbaren Verhaltensweisen genauso wie Selbstwert und Selbstmanagement. Die Teilnehmer sollen neue Fertigkeiten zur Bewältigung des sozialen Alltags erwerben und ihr Vertrauen in ihre eigenen Bewältigungsressourcen soll gestärkt werden, um die Entstehung von psychischen oder somatischen Krankheiten zu verhindern und die soziale Wiedereingliederung zu fördern.
Hinsch&Weigelt beschreiben das Ziel des sozialen Kompetenztrainings als „ die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen“ (2007, S.90).
Erika Güroff (2019) spricht von angestrebten Qualitäten für den zwischenmenschlichen Umgang:
- Die kognitive Fähigkeit, sich und andere wertzuschätzen und sich selbst zu ermächtigen und anzuerkennen.
- Emotionale Gelassenheit, Leichtigkeit, Sicherheit und Selbstvertrauen.
- Ruhe und Entspanntheit auf körperlicher Ebene.
- Authentische und angemessene Verhaltensweisen wie Wünsche ablehnen oder durchsetzen.
Das negative Selbstkonzept des Patienten soll sich mit der eigenen Fehlbarkeit und den eigenen Schwächen aussöhnen und durch die wiederholte Selbstverstärkung darf die Selbstabwertung losgelassen werden.
- Indikation
Die Vermittlung sozialer Kompetenzen, die Verbesserung des Selbstwerts und die Überwindung sozialer Ängste sind essentiell in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Nach Pfingsten spielen „Soziale Kompetenzprobleme bei der Ätiologie und/oder Therapie fast aller psychischer Störungen eine klinisch relevante Rolle. Sehr oft sind sie Vorläufer anderer psychischer Störungen“ (2007, S.232). Ob beim einzelnen Patienten tatsächlich Kompetenzprobleme vorliegen und ihnen eine behandlungswürdige Funktion zukommt, ist vor einer routinemäßigen Anwendung des Trainings unbedingt zu prüfen.
Bei sozialphobischen Menschen und Menschen mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeit gehört das soziale Kompetenztraining zu den Standardmethoden in der multimodalen Behandlung.
Sowohl Patienten mit sozialen Defiziten als auch solche mit Mängeln der sozialen Performanz profitieren von einem Kompetenztraining. Ausschlaggebend für die Teilnahme ist die Einsicht der sozialen Defizite, eine gewisse Risikobereitschaft, Gruppenfähigkeit und Veränderungsmotivation, sich mit angstauslösenden Situationen zu konfrontieren. Eine Selbstindikation der Teilnehmer, welche zu Beginn durch anschauliche Informationen über Konzeption und Vorgehensweise des sozialen Kompetenztrainings gewährleistet wird und durch die eigene Entscheidung am Training teilzunehmen, erhöht die Trainingsmotivation, führt zu einer geringeren Abbrecherquote und erleichtert die therapeutische Arbeit im Trainingsverlauf. (Pfingsten, 2007)
Bei jedem Patienten gilt die individuelle intrapsychische und interaktionelle Funktionalität der Kompetenzdefizite abzuklären.
- Anwendungsgebiete
Gerade bei psychiatrischen Patienten mit chronischen psychischen Störungen hat sich das soziale Kompetenztraining als eine wirkungsvolle Intervention erwiesen, weshalb die Psychotherapie und klinische Psychologie besonders wichtige Anwendungsbereiche darstellen sowohl im ambulanten wie auch im stationären Setting.
Hinsch& Pfingsten (2007) geben einen groben Überblick über das weite Anwendungsfeld eines Trainings für soziale Kompetenzen. So gibt es Trainings für Depressive und Psychosomatik Patienten, für Sozialphobiker, für Suchtkranke, für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder einer körperlichen Behinderung und für Menschen mit Essstörungen. Spezielle entwickelte Programme gibt es für Familien, Paare, (aggressive und straffällige) Jugendliche und Kinder.
Bei schizophrenen und affektiven Psychosen ist eine Teilnahme an einem Kompetenztraining nach dem Abklingen der akuten psychotischen Symptomatik unterstützend, um in der Alltagsrealität wieder Fuß zu fassen.
Nicht nur Menschen mit psychischen Erkrankungen können von der Vermittlung sozialer Kompetenzen profitieren, sondern auch im nichtklinischen Bereich gibt es vielfältige Abwandlungsmöglichkeiten für unterschiedliche Zielgruppen. Beispielsweise für Menschen, die sich aktuell in einer Lebenslage befinden, die besonders ausgeprägte soziale Fähigkeiten erfordert wie etwa Arbeitslosigkeit oder bei chronischen Erkrankungen oder für die berufliche Weiterbildung, wo es um die Erweiterung einer überfachlichen Qualifikation geht.
Eine Fülle von klinischen Studien ergab Zusammenhänge zwischen inkompetenten Sozialverhalten und psychischen Störungen, Aggression, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Ehe- und Partnerproblemen, sexuellen Störungen und Suizid. Hier ist die große gesellschaftliche Chance auf Prävention und Rehabilitation zu sehen und der pädagogische Anspruch, durch das Training sozialer Kompetenzen Störungen positiv zu beeinflussen. (vgl. Bauer, 2007)
- Praktische Anwendung
3.1. Organisatorische Rahmenbedingungen und Voraussetzungen
Das Training zum Erlernen von neuen adäquaten Sozialverhalten kann sowohl in den Behandlungsplan einer Einzeltherapie integriert als auch als Gruppentherapie eingesetzt werden. In der Gruppe kommt der Faktor, dass alle Teilnehmer gemeinsam dieselben Ziele verfolgen, nämlich das Erlernen von neuen, kompetenten Verhalten, besonders zum Tragen. Hier empfiehlt sich eine Gruppengröße von 6 oder 4 Personen. Die kleine Teilnehmeranzahl ergibt sich aus der Überlegung, dass jeder alle Szenen üben können soll. Das Training sollte ausschließlich in geschlossenen Gruppen erfolgen. Ist eine größere Patientenanzahl wie etwa im stationären Setting erforderlich, sollte diese von zwei Therapeuten angeleitet werden.
Das Training sozialer Kompetenzen kann in 30 Gruppensitzungen a`100 Minuten durchgeführt werden. Parallel dazu stattfindende Einzelsitzungen sind sinnvoll. Bei einzelnen Patienten mit schwerer sozialer Phobie empfiehlt es sich, Verhaltensübungen im Einzelsetting durchzuführen. Gerade für Menschen mit einer ausgeprägten Angst vor negativer Bewertung, stellt die Gruppe oder auch das Setting in der Einzeltherapie bereits eine gefürchtete soziale Situation dar, in der es darum geht, eigene Schwächen zu präsentieren.
Die Teilnehmer dürfen vor dem Training keinen Alkohol, keine Drogen oder Angst dämpfende Medikamente konsumieren.
3.2. Besonderheiten in der Beziehungsgestaltung
Die Basis bildet eine respektvolle Haltung ohne Leistungsdruck. Bei Patienten mit sozialen Kompetenzproblemen gilt es folgende Aspekte zu berücksichtigen.
– Hohe Verletzlichkeit sozialen Misserfolgen gegenüber
– Große Skepsis bei Lob und positivem Feedback
– Starke Tendenz zur Konformität
– Ausgeprägtes Bedürfnis nach klar strukturierten Anweisungen und Aufgabenstellungen
– Hohe Selbstaufmerksamkeit
– Starke Beschäftigung mit Aspekten der Selbstpräsentation
– Übertriebene, perfektionistische Ansprüche an das eigene Verhalten (vgl. Pfingsten, 2007)
3.3. Ablauf und Durchführung
Der Therapeut veranschaulicht sozial kompetentes Verhalten in einem Modellrollenspiel oder zeigt die Übungsszene als Film vor. Anschließend wird der Patient aufgefordert die entsprechende Situation nachzuspielen. Der Therapeut und die anderen Gruppenteilnehmer geben daraufhin ausschließlich positive, konkrete und situationsnahe Rückmeldungen zum erfolgreichen Verhalten, um jede Annäherung an das gewünschte Zielverhalten zu verstärken. Es empfiehlt sich, ganz ehrlich nur zu bewerten, was gelungen ist und positiv aufgefallen ist, um über die Ermutigung mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Durch diese Nichtbeachtung von Schwächen sollen diese allmählich gelöscht werden. Ein negatives Feedback führt zu einer Verstärkung der Verunsicherung beim Patienten und impliziert, dass es ein perfektes Verhalten gibt.
Die Möglichkeit ein Rollenspiel aufzunehmen und das Video gemeinsam anzusehen, stellt eine gute Feedbackmöglichkeit für den Übenden dar. Ein maximaler Angstanstieg „Flooding“ soll beim Üben verhindert werden, um nicht kontrollierbare Fluchtimpulse zu verhindern oder zur aversiven Situationsverarbeitung. Eine humorvolle Therapeutenhaltung kann über schwierige Situationen hinweg helfen.
Die für eine Korrektur der sozialen Angst notwendigen zwischenmenschlichen Erfahrungen sollen nach dem Üben im Rollenspiel als Hausübungen, außerhalb des geschützten Raumes in der Realität (In- vivo), selbstständig geübt werden, um den Transfer in den Alltag zu schaffen und den Trainingserfolg langfristig zu stabilisieren.
3.4. Das Trainingsprogramm TSK mit Basis und Aufbauübungen
Der folgende Text orientiert sich am Trainingsprogramm „Selbstsicherheit und soziale Kompetenz“ von Erika Güroff (2019). Das aufbauende Manual bestehend aus 30 vorgegebenen Übungssituationen, welche von Patient und Therapeut gemeinsam bearbeitet werden können. Es gliedert sich in 13 vorgegebene Basisszenen, darauf folgen individuell variierbare Aufbau- oder Vertiefungsszenen mit dem anschließenden Übergang in individuelle Szenen. Hier sollen nach der Vermittlung der Basiskompetenzen, die jeweils persönlichen Problembereiche im Sinne des Selbstmanagements, aktiv angegangen werden. Das Training entspricht genau den Erfordernissen im stationären Setting.
Vor jeder Übung soll der Patient sein individuelles Erregungsniveau (SUD) in Bezug auf den Schwierigkeitsgrad einschätzen, um die Übung daran anzupassen. Eine deutliche Einstufung über 40 stellt bereits eine Überforderung dar. Gibt ein Patient ein Angstniveau von Null an, soll ebenfalls geübt werden, um die Basisfertigkeiten zu erlernen. Anschließend soll der Patient für die jeweilige Übungssituation die Situationsziele und Lernziele auf der kognitiven und Verhaltensebene und seine Gefühle und Wünsche formulieren.
3.4.1. Konkretes Übungsbeispiel (Güroff, 2019, S.86ff)
BASISÜBUNG Szene 9 Es liegt vor der Nase
Ich bin in einem Supermarkt unterwegs und suche z.B. am Gemüsestand nach Tomaten. Ich weiß, dass sie da sind aber:
Ich will lernen, dass ein „Fehler“, eine Unachtsamkeit, eine Gedankenlosigkeit, keine Blamage bedeutet, die ich fürchten (und damit vermeiden) müsste. In diesem Fall liegen die Tomaten direkt vor mir, gewissermaßen vor meiner Nase, und ich entdecke sie doch nicht.
Ich frage die Verkäuferin nach den Tomaten.
Ihre Therapeutin zeigt Ihnen nun die Übung. Sie schauen genau zu, achten darauf, was Ihnen auffällt, insbesondere welche Verhaltensweisen des Modells Ihnen selbstsicher und kompetent erscheinen, und überlegen sich, was sie davon gerne ausprobieren und lernen möchten.
Vorschläge für Ihre Lernziele, die durch Sie erweitert werden können:
Verhalten
- Ich gehe direkt auf die Person zu.
- Ich schaue sie direkt an (Blickkontakt).
- Ich entschuldige mich nicht, sondern grüße.
- Ich halte mich aufrecht.
- Ich hebe den Kopf.
- Ich stelle meine Frage laut und deutlich.
- Ich passe meinen Gesichtsausdruck meiner Gemütsverfassung an: ich lächle, wenn ich guter Dinge bin; ich bleibe ernst, wenn ich mich ernst fühle (ich bin authentisch).
- Wenn mir die Verkäuferin die Tomaten zeigt und sagt beispielsweise:“hier direkt vor Ihnen“, wende ich keinerlei Selbstabwertung an, wie „bin ich vielleicht blöd“ o.Ä.
- Ich bedanke mich freundlich
Gedanken
- Ich will sichtbar sein
- Nur wenn sich die Menschen anschauen, ist ein Austausch möglich.
- Ich lade keine Schuld auf mich, wenn ich Unterstützung brauche.
- Ich kann mich zeigen.
- Nur wenn ich laut und deutlich spreche, werde ich gehört.
- Ich bin, wie ich bin; ich lerne den Unterschied zwischen ernstem Gesichtsausdruck und unfreundlichem.
- Ich darf mal etwas übersehen, das ist natürlich.
- Ich zeige Wertschätzung, wenn ich mich bedanke.
Körperreaktionen
- Ich weiß, dass ich die sogenannten „autonomen“ Körperreaktionen nicht direkt beeinflussen kann.
Welche neuen Erfahrungen kann Ihnen diese Szene bringen?
Mögliche Blamage, Peinlichkeit, Scham sind schlimme Erlebnisse im Leben eines jeden. Verhöhnungen durch andere sind leider häufige Erfahrungen, die schon Kinder machen müssen. Diese Verhöhnungen verletzen das Grundbedürfnis nach Respekt und Wertschätzung zutiefst und bleiben lang im Gedächtnis. Sie als Erwachsene haben nun zum Glück die Möglichkeiten, die alten Verletzungen zu bewältigen. Übungen der vorliegenden Art sind ein Baustein.
Lernen Sie um: Sie können sich eine Menge an kleinen Fehlleistungen und Schusseligkeiten leisten, ohne mit einer Wiederholung der Kränkung rechnen zu müssen. Wenn Scham und Kränkung ein großes Thema für Sie sind, wird Ihnen Ihre Therapeutin in den Therapiestunden noch vertiefte Hilfen anbieten können.
Nun überlegen Sie sich ihre zwei bis drei wichtigsten Ziele aus der Tabelle, Ihre SUDs, suchen sich eine Partnerin und machen das Rollenspiel.
Aktion
Nun wenden Sie die Goldene Regel (Ich bewerte meine eigene Übung und die der Gruppenmitglieder nur unter dem Aspekt, was dabei gelungen ist, was positiv aufgefallen ist. Auf Schwächen oder Fehler gehe ich nicht ein, ich übergehe sie. Ich bin dabei vollkommen ehrlich!) an, erst Sie selbst, dann die anderen Gruppenmitglieder oder die Therapeutin.
Wie fühlen Sie sich jetzt?
Aufgeregt?, erleichtert?, froh?, überrascht?, neugierig?, beschwingt?, verwirrt?, frech?,…
3.4.2. Erfolgskontrolle
Nach den Basisübungen soll eine Zwischenmessung mittels U-Fragebogen von Ulrich und de Muynck (1998) und FAF, Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren, stattfinden. Die Abschlussmessung sollte direkt nach der Beendigung und nach weiteren drei Monaten durchgeführt werden. Im Sinne der Rückfallprophylaxe können die Gruppenmitglieder ermuntert werden, in Kontakt zu bleiben und gemeinsam die Technik des Rollenspiels weiter zu pflegen. (Güroff, 2019)
Bevor soziales Kompetenztraining angeboten wird, ist es förderlich für angehende Therapeuten, die eigene Empathie und das eigene Verständnis für zukünftige Patienten zu erhöhen, indem die Übungen selbst ausprobiert werden.
- Evidenz
Die zahlreiche Forschung belegt die Wirksamkeit sozialer Kompetenztrainings bei vielen Störungsbildern und verschiedenen Patientengruppen ( z.B. Pfingsten 1987; Pfingsten & Hinsch, 1997; Ulrich de Muynck & Ulrich, 1976). Margraf und Schneider geben an, dass ihr Einsatz besonders umfassend abgesichert ist „ bei Depressionen, Partnerproblemen sowie bei schizophrenen und substanzbezogenen Störungen. Beim Alkoholismus können sie mit anderen Interventionen als evidenzbasiertes Verfahren der höchsten Stufe gelten“ (2018, S. 483).
Besonders bei klinisch relevanten sozialen Ängsten gelten multimodale Trainings als Mittel der Wahl. Weitere Arbeiten, die die Effektivität sozialer Kompetenztrainings bei Sozialen Phobien zeigen konnten, wurden in den Arbeitsgruppen um Stravinsky (1982, 1987), Trower (1978), Alden (1989) und Mersch (1991, 1995) durchgeführt. Ältere Metaanalysen zufolge entstand die Annahme, „dass soziale Kompetenztrainings bei sozialen Phobien wirksam sind, in Ihrer Effektivität jedoch möglicherweise von anderen Interventionsverfahren wie Exposition oder kognitiver Therapie noch übertroffen würden“ (Pfingsten, 2007, S.235). Diese Argumentation fußt allerdings auf den älteren Trainingskonzepten.
In der Metaanalyse von Ruhmland und Margraf (2001) zeigt sich, dass handlungsbezogene therapeutische Ansätze bzw. Kombinationen mit solchen Behandlungsmodulen in kognitiv-behavioralen Therapieprogrammen rein kognitiven überlegen sind (2002, S.194).
In der klinischen Praxis gilt nach Koban und Neumann (2001) die Kombination von kognitiver Therapie, Reizkonfrontation und sozialem Kompetenztraining im Gruppensetting als Therapiemethode der Wahl. Folgende Wirkfaktoren geben die Autoren für Gruppentrainings an. Die andauernde Exposition durch die Gruppensituation, die Verminderung von Isolationsgefühlen bezüglich der Erkrankung, die Möglichkeit der Modellfunktion anderer Gruppenmitglieder und Therapeuten und mehr Möglichkeiten für Feedback und Rollenspiele.
Die kombinierte Wirkung sozialer Kompetenztrainings einerseits die psychische Störung zu vermindern und gleichzeitig die persönlichen Ressourcen des Patienten zu steigern, trägt dazu bei, die defizitorientierten Aspekte von Behandlungsstrategien zu überwinden.
Literatur
- Alsleben, H. & Hand, I., (Hrsg.). Soziales Kompetenztraining. Gruppentherapie bei sozialen Ängsten und Defiziten. (2006) München, Jena: Urban&Fischer.
- Bauer, Mathilde (2007). Interventionen. In: Hinsch, R. & Pfingsten, U. (2007). Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Weinheim, Basel: Beltz.
- Fydrich, T. (2002). Soziale Kompetenz und soziale Performanz bei sozialer Phobie. In: U. Stangier & T. Fydrich (Hrsg.). Soziale Phobie/Soziale Angststörungen. Psychologische Grundlagen- Diagnostik-Therapie (S. 181-203), Göttingen: Hogrefe.
- Güroff, E. (2019). Selbstsicherheit und soziale Kompetenz. Das Trainingsprogramm TSK mit Basis- und Aufbauübungen. Stuttgart: Klett-Cotta.
- Hinsch, R. & Pfingsten, U. (2007). Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Weinheim, Basel: Beltz.
- Koban, C. & Neumann, B. (2001).Gruppentherapie bei sozialen Ängsten und Kompetenzmängeln. In: Psychotherapie im Dialog 2(1): S. 63-70
- Margraf,J. & Schneider, S. (209). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 1. Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. 3. Auflage. Heidelberg: Springer.