Verhaltenstherapie bei Alkoholabhängigkeit (Dafert)

Burkhard Dafert

Epidemiologie

Suchtkranke stellen Behandlerinnen und Behandler vor ganz spezielle Herausforderungen, weshalb sie bei vielen Psychotherapeutinnen als schwierige Klientel gelten und vor deren Behandlung in ambulanter Praxis viele Kolleginnen zurückschrecken.

Dabei stellen die Suchtkranken, egal ob als Haupt- oder Nebendiagnose, einen nicht unerheblichen Teil der therapiebedürftigen Bevölkerung dar.

Alkohol gilt in Österreich als Kulturdroge, weshalb der Gebrauch im Gegensatz zu den sogenannten illegalen Drogen in vielen Fällen als unproblematisch bzw. zum Alltag gehörend betrachtet wird.

Es ist daher notwendig, zwischen unbedenklichem Gebrauch, schädigendem Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol zu differenzieren. Als unproblematisch gilt der Gebrauch dann, wenn der Konsum von Alkohol bei Männern 24 g reinen Alkohol pro Tag nicht übersteigt. Dies entspricht ca. 0,3 Liter Wein bzw. 0,6 Liter Bier. Bei Frauen ist dieser Wert auf Grund des unterschiedlichen Stoffwechsels niedriger anzusetzen. Nämlich bei 16 g reinen Alkohol pro Tag, was 0,2 Liter Wein bzw. 0,4 Liter Bier entspricht. Wobei diese Werte nur als Richtwerte gelten können und zusätzlich mindestens 2 alkoholfreie Tage pro Woche zu berücksichtigen sind.

Als gesundheitsgefährdend wird der Konsum bei Männern dann eingestuft, wenn die täglich konsumierte Menge an reinem Alkohol 60 g übersteigt, was 1,5 Litern Bier bzw. 0,75 Litern Wein entspricht. Auch diese Grenze liegt bei Frauen deutlich niedriger, nämlich bei 40 g reinem Alkohol oder 1 Liter Bier oder 0,5 Liter Wein pro Tag. In die Kategorie des gesundheitsgefährdenden Konsums fallen in Österreich 19% der Männer und 9% der Frauen (Uhl et al. 2019).

5% der erwachsenen Österreicherinnen und Österreicher ab dem 15. Lebensjahr gelten als alkoholabhängig. In ganzen Zahlen entspricht dies 365.000 Personen. Die Lebenszeitprävalenz, also das Risiko im Laufe seines Lebens eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln, beträgt 10%. Die Geschlechterverteilung hat sich in den letzten Jahren zunehmend angepasst. Das Verhältnis von Männern zu Frauen liegt mittlerweile bei 3:1 (Uhl et al. 2019).

Diagnose und Diagnostik

Im Gegensatz zu DSM 5, wo davon ausgegangen wird, dass Abhängigkeit und Missbrauch Ausprägungen auf einem eindimensionalen Kontinuum darstellen und demzufolge nur mehr von einer Alkoholkonsumstörung gesprochen wird, wird im ICD 10 zwischen schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit differenziert und auch im Nachfolger ICD 11 wird diese Unterscheidung beibehalten.

Nach ICD 10 liegt ein schädlicher Gebrauch (ICD 10 F10.1) dann vor, wenn nachgewiesen werden kann, dass Substanzgebrauch verantwortlich für die körperlichen oder psychischen Schäden ist. Die Art der Schädigung kann klar festgestellt und bezeichnet werden und die Gebrauchsmuster bestehen seit mindestens einem Monat oder traten wiederholt in den letzten 12 Monaten auf. Auf die Störung dürfen Kriterien für andere Störungen bedingt durch dieselbe Substanz nicht zutreffen.

Zusätzlich unterscheiden wir zwischen quantitativem Missbrauch und dem qualitativen Missbrauch.  Quantitativer Missbrauch liegt vor, wenn Alkohol regelmäßig in gesundheitsschädigenden Mengen konsumiert wird. Qualitativer Missbrauch liegt vor, wenn bewusst die psychische Wirkung des Alkohols gesucht wird, sei es zur Spannungsregulation, zur Emotionsmodulation oder zur Beeinflussung des Verhaltens in sozialen Situationen. Man spricht dann auch von funktionalem Trinken.

Um von einer Abhängigkeit (ICD 10 F10.2) sprechen zu können müssen mindestens drei der folgenden Diagnosekriterien in den letzten 12 Monaten erfüllt gewesen sein.

  • Starker Wunsch (Zwang) Substanzen zu konsumieren
  • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginnes, Beendigung und Menge des Konsums
  • Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung des Konsums oder Verminderung der Entzugssymptome durch Substanzkonsum
  • Nachweis einer Toleranz, im Sinne erhöhter Dosen für gewünschte Wirkung
  • Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutig schädlicher Folgen (körperlich, sozial, psychisch)

(Dillinger et al. 2015)

Wie bereits erwähnt, wird am zweidimensionalen Konstrukt, der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit auch im ICD 11 festgehalten. Im Kapitel substanzinduzierte Störungen wird unter 6C40 Alkoholbedingte Störungen zwischen „Episode von schädlichem Gebrauch von Alkohol“ 6C40.0 und „Schädlichem Gebrauch“ 6C40.1 unterschieden. Zusätzlich wird es als eigene Kategorie die Alkoholabhängigkeit 6C40.2 mit Differenzierungen zwischen regelmäßigem Gebrauch 6C40.20 und episodischem Gebrauch 6C40.21 geben. Weiters wird es noch Unterscheidungen hinsichtlich der Dauer der Remission geben (Gmel 2015).

Besonders sei darauf hingewiesen, dass die Diagnose der Alkoholkrankheit unabhängig von der täglich konsumierten Menge an Alkohol ist.

Typologien

Für die Behandlungsplanung reicht die bloße Diagnostik nach ICD 11 oder DSM – 5 in vielen Fällen aber nicht aus. Bereits sehr früh wurde versucht unterschiedliche Typen von Alkoholkranken zu definieren.

Eine der ersten Typologien lieferte Jelinek (1960) mit seiner Unterscheidung in Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- und Epsilon – Trinker. Alpha, der Konflikt bzw. Problemtrinker und Beta, der Gelegenheitstrinker stellen in diesem Modell eher Vorstufen zur Abhängigkeit dar, während Gamma, der Rausch- bzw. süchtige Trinker und Delta, der Spiegeltrinker, die eigentlichen Formen der Alkoholabhängigkeit darstellen. Eine Sonderform bildet der Epsilontrinker mit seinem episodischen Gebrauch, wobei in diesem Fall oftmals eine bipolare Störung als Grunderkrankung anzunehmen ist. Der Alkoholkonsum korreliert dann mit den Phasen der bipolaren Störung.

Cloninger (1996) schlägt 2 Kategorien vor, den Typ I, mit spätem Beginn und langsamem Krankheitsverlauf, einer geringen familiären Disposition, guter sozialer Integration und guter Prognose. Typ II nach Cloninger betrifft überwiegend Männer, ist durch sehr frühen Krankheitsbeginn gekennzeichnet und weist hohe genetische Disposition auf. Typ II ist häufig mit dissozialer oder auch emotional instabiler Persönlichkeitsstruktur kombiniert und weist eine schlechtere Prognose auf. Schuckit (1995) unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Alkoholismus. Primärer Alkoholismus entwickelt sich in der Folge von übermäßigem Alkoholkonsum, wohingegen sekundärer Alkoholismus als Folgeproblem psychischer, körperlicher oder sozialer Schwierigkeiten auftritt.

Für die Behandlungsplanung sehr effektiv erweist sich die Typologie nach Lesch (1990), der sich auch an der Funktionalität des Alkoholmissbrauche orientiert. Lesch unterscheidet 4 Typen der Alkoholkrankheit. Typ I weist durch Veränderungen der Acetaldehydrogenase eine erhöhte organische Vulnerabilität für Abhängigkeit auf. Typ II kann auch als Angst- bzw. Konflikttrinker bezeichnet werden. Diese Gruppe konsumiert Alkohol hauptsächlich wegen der angstlösenden oder auch beruhigenden Wirkung. Typ III nach dieser Typologie verwendet den Alkohol zur Selbstbehandlung psychischer Erkrankungen. Typ IV, der Trinker aus Gewöhnung betrachtet den Alkoholkonsum als normal, bei oftmaligem Vorliegen von voralkoholischen Schäden.  Psychotherapeutische Interventionen sind besonders bei Typ II und Typ III indiziert.

Therapeutische Ansätze und Modelle

Allgemeines Rahmenmodell

Hinsichtlich der Entstehung von Sucht und abhängigem Verhalten herrscht nur in einer Hinsicht Einigkeit, nämlich dass es sich, wie bei eigentlich allen psychischen Störungen, um ein multifaktorielles Geschehen im Sinne des bio – psycho – sozialen Modells handelt. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass Entstehung und Aufrechterhaltung von Missbrauch und Abhängigkeit von drei Hauptfaktoren beeinflusst wird: Individuum, Suchtmittel und Umwelt (Mann et al. 2006).

Ob eine Person Alkohol konsumiert bzw. wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, von Alkohol abhängig zu werden, ist abhängig von individuellen Faktoren wie Frustrationstoleranz, Persönlichkeitsstruktur, verfügbaren Copingstrategien, erlerntem dysfunktionalen Verhalten und genetischen Faktoren. Das gehäufte Auftreten von Alkoholkrankheit innerhalb von Familien ist nicht nur über Modelllernen zu erklären, sondern ist auch auf genetische Vulnerabilität zurückzuführen.

Ob ein Suchtmittel konsumiert wird ist abhängig von seiner Verfügbarkeit, der Suchtpotenz und der suchtmittelspezifischen Wirkungen. Bei Alkohol sind hier Entspannung, Angstlösung, zu Beginn Enthemmung, Euphorisierung und scheinbare Selbstwertsteigerung als Hauptwirkungen zu nennen. In der Anfangsphase der Alkoholisierung scheint der Alkohol mit den Grundannahmen über das eigene Selbst zu interferieren und dabei negative Kognitionen über das eigene Selbst heraus zu filtern. Die enthemmende Wirkung des Alkohols entsteht also dadurch, dass er unsere Hemmungen hemmt. Dies spiegelt sich auch auf der körperlichen Ebene wider, wo Alkohol primär im GABAergen System des Zentralnervensystems seine vorrangig hemmende Wirkung entfaltet.

Konsum und Häufigkeit des Konsums von Alkohol werden stark von Vorbildern im näheren Umfeld und dem in der Kultur vorherrschenden Trinkverhalten beeinflusst. Alkohol ist in Österreich in das gesellschaftliche Leben integriert und auch der Zustand der Berauschung durch Alkohol wird toleriert. Dieser Umstand kann einen Teil des in Österreich sehr hohen pro Kopf Verbrauch von Alkohol erklären. Bei Jugendlichen ist besonders der Einfluss der Peergroup zu erwähnen, wobei hier sowohl Beeinflussungseffekte wie Gruppendruck, als auch Selektionseffekte eine Rolle spielen.

Störungsmodell VT

Aktivierte GrundannahmenEigenes Selbst              Situation
Emotionen
Automatische Gedanken
AuslösesituationIntern         Extern Extern

Abhängiges Verhalten wird einerseits durch klassische Lernprozesse erklärt. Durch psychologische Faktoren, modifizierte Umgebungseinflüsse und die Verstärkerwirkung der pharmakologischen Eigenschaft des Alkohols tragen zu Entstehung und Aufrechterhaltung der Alkoholkrankheit bei. Andererseits leisten kognitive Grundannahmen über die eigene Person und die eigenen Copingstrategien, als auch dysfunktionale Schemata über den Substanzgebrauch sowie die pharmakologische Wirkung des Alkohols einen Beitrag zur Genese der Abhängigkeitserkrankung. Das kognitive Modell der Sucht wird in folgender Abbildung skizziert:

Ergänzt wird dieses kognitiv – behaviorale Modell durch Erkenntnisse der Neurobiologie. Sowohl durch Veränderungen der Rezeptordichte und Rezeptorempfindlichkeit im GABAergen und glutamatergen System als auch durch veränderte Enzyminduktion, hervorgerufen durch die vermehrte Einnahme von Alkohol, kommt es erst zu einer erhöhten Alkoholtoleranz, später dann zur körperlichen Abhängigkeit. Alkohol wirkt auch direkt auf das körpereigene Belohnungssystem, das dopaminerge System. Mittels klassischer Konditionierung werden Situationen mit der Einnahme von Alkohol und dessen belohnender Wirkung gekoppelt. Dadurch kommt es zu einer erhöhten Dopaminausschüttung in der Erwartung der positiven Wirkung des Alkohols. Diese erhöhte Dopaminausschüttung führt selbst wieder zu einer Erhöhung des Alkoholverlangens. Dies und die gleichzeitige Sensitivierung des dopaminergen Systems führt zur Ausbildung des sogenannten Suchtgedächtnisses.

Die Alkoholkrankheit basiert also auch auf neuronalen Veränderungen, die durch Prozesse der operanten und klassischen Konditionierung hervorgerufen werden.

Interventionen

Vorweg ist noch zwischen Entgiftung und qualifizierter Entwöhnungsbehandlung zu unterscheiden. Steht in der Entgiftungsphase der körperliche Entzug und die Behandlung etwaiger körperlicher Folgeerkrankungen im Vordergrund, so konzentriert sich die Behandlung in der Entwöhnungsphase auf die Veränderung suchtspezifischer Denk- und Verhaltensmuster sowie dem Aufbau alternativer, weniger selbstschädigender Denk- und Verhaltensstrategien. Auch die Behandlung etwaiger psychiatrischer Grunderkrankungen ist in der Entwöhnungsphase zu berücksichtigen.

Die Notwendigkeit einer eigenen Motivationsphase, abgegrenzt von den restlichen Behandlungsphasen, wird oft diskutiert, ist in der Praxis aber isoliert nicht durchführbar. Vielmehr gilt es, zu erkennen, in welcher Phase des transtheoretischen Veränderungsmodells nach Prochaska & Clementi (1983) sich der Klient gerade befindet, um dann phasengerecht intervenieren zu können.

Jede Suchtherapie ist also gleichzeitig auch eine Motivationstherapie. Der Aufbau einer stabilen, inneren positiven Änderungsmotivation stellt eine der zentralen Aufgaben in der Suchtbehandlung dar. In der Behandlung wird besonderer Wert auf die Vermittlung eines dynamischen Motivationsbegriffes gelegt. So ist Motivation kein stabiles Konstrukt, sondern ein dynamisches Geschehen, welches permanenten Schwankungen unterliegt, worauf sowohl Klientinnen als auch Behandlerinnen vorbereitet sein sollen. Wie Rollnick und Miller (1991) in ihrem Buch zur motivierenden Gesprächsführung aufzeigen stehen Menschen jeder Verhaltensänderung ambivalent gegenüber. Dieser Ambivalenz des Patienten gegenüber allen Verhaltensänderungen, die als Therapieziele festgelegt wurden, sollte sich der Behandler gerade in der Arbeit mit Suchtkranken besonders bewusst sein.

Totalabstinenz vs. Harm – Reduction

Jahrzehntelang stellte die Totalabstinenz das alleinige Behandlungsziel bei Suchtkranken dar. Erst in den letzten Jahren etablierte sich erfolgreich das Konzept der Harm – Reduction, vorerst hauptsächlich im Bereich der illegalen Drogen, zunehmend aber auch im Bereich der Alkoholabhängigkeit. Dies ist vermutlich der geänderten Diagnostik der Alkoholkrankheit im DSM – 5 geschuldet. In Zukunft wird im DSM – 5 auf die Unterscheidung zwischen Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit verzichtet, und stattdessen der Schweregrad einer Substanzgebrauchsstörung diagnostiziert (APA 2013).

Die Biologie spricht nach heutigem Wissensstand für das Konzept der Totalabstinenz. In der Praxis dürfte es von größerer Bedeutung sein, Patientinnen und Patienten im Behandlungssetting zu halten, als sie durch zu intensives Drängen auf ein, zu diesem Zeitpunkt für den Patienten nicht vorstellbares Behandlungsziel, aus der Behandlung zu verlieren. Im Gegensatz zur stationären Behandlung, wo die Totalabstinenz an allen Einrichtungen das erklärte Therapieziel ist, ist im ambulanten Setting eher ein pragmatischer Zugang zu wählen. Prinzipiell bleibt das Ziel der Totalabstinenz aufrecht, sollte dies aber noch nicht möglich sein, kommt das Konzept der Harm – Reduction zur Anwendung. Bei einer schweren Gebrauchsstörung im Sinne des DSM – 5 ergeben sich daher folgende pragmatische Behandlungsziele:

  • Abstinenz gilt als übergeordnetes Therapieziel, welches aber oftmals nur nach langem, manchmal auch jahrelangem Prozess erreicht werden kann. In diesem Prozess benötigt der Patient therapeutische Unterstützung.
  • Substanzmissbrauch wird als selbstschädigendes Verhalten betrachtet und behandelt.
  • Sollten Rückfälle auftreten, so gilt das Ziel der Schadensbegrenzung und die möglichst rasche Rückkehr zur weitgehenden Totalabstinenz.
  • Der Rückfall wird als Teil der Therapie betrachtet.

Burtscheid (2002) schlägt folgende Behandlungszielpyramide vor.

Überlebenssicherung: In dieser Phase sollen positive Erfahrungen mit Abstinenz und Therapie vermittelt werden. Weiters erfolgt eine Reflexion der derzeitigen Lebenssituation.

Schadensminderung: In dieser Phase erfolgt die Motivation zu weiteren Maßnahmen.

Verlängerung von Abstinenzphasen: In diesem Abschnitt steht die Analyse und Aufarbeitung von Rückfallsituationen im Vordergrund.

Dauerhafte Abstinenz: Psychotherapie suchterhaltender Strukturen und Konflikte.

Stehen zu Beginn der Behandlung eindeutig abstinenz- bzw. suchtspezifische Ziele im Fokus der Behandlung, so wird mit Fortdauer der Behandlung die Bearbeitung grundlegender dysfunktionaler Schemata, wie sie durch die vertikale Verhaltensanalyse erfasst werden können, immer wichtiger.

Kontrolliertes Trinken als Therapieziel

Immer wieder wird auch der selbstgesteuerte Konsum als mögliches Therapieziel ins Spiel gebracht. Selbstkontrollierter Konsum bezeichnet einen disziplinierten, geplanten und limitierten Substanzgebrauch, bei dem eine Person ihren Konsum an einem zuvor festgelegten Konsumplan/Konsumregeln ausrichtet.  Jeweils für eine Woche im Voraus werden Konsummenge und Konsumfrequenz geplant. Auch der Kontext des Konsums, wo, wann und mit wem wird vorab festgelegt (Körkel 2014). Kontrollierter Konsum darf nicht mit unproblematischem, sozial angepasstem Konsum verwechselt werden. In der Praxis erweist sich das Modell des selbstgesteuerten Konsums langfristig als wenig zielführend, bietet aber oftmals einen guten Einstieg in die Behandlung, wo der angestrebte Wechsel zum Modell der Totalabstinenz zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen kann.

Funktion des Abusus

Selbstverständlich macht es in der Behandlung einen Unterschied, ob ein Klient Alkohol zum Zwecke des „sensation seeking“ konsumiert, ob der Substanzkonsum zur Reduktion von Ängsten oder Unsicherheiten dient oder ob im Sinne der Selbstmedikationshypothese legale oder illegale Drogen konsumiert werden, um die Symptome einer psychiatrischen Grunderkrankung zu mildern.

Die Definition der Funktion des Abusus mittels Verhaltens- bzw. Bedingungsanalysen ist also ein weiteres, zentrales Kernstück der Behandlung. In der horizontalen Verhaltensanalyse setzen wir den Substanzkonsum an die Stelle des zu untersuchenden Problemverhaltens.  Neben der Ebene der kognitiven Prozesse und der biologisch – physiologischen Ebene muss speziell auf die Ebene der emotionalen Reaktionen Rücksicht genommen werden. Bei der Analyse der Auslösesituation soll neben einer genauen Analyse der Umgebungseinflüsse besonders darauf geachtet werden, ob der Konsum eher allein stattfindet, oder in Gesellschaft. In der Analyse der inneren Verarbeitung werden sowohl die dysfunktionalen Grundannahmen über das eigene Selbst und die Situation als auch suchtspezifische Grundannahmen erhoben. Diese suchtspezifischen Grundannahmen betreffen Annahmen über das Suchtmittel an sich und Annahmen über die Wirkungen des Suchtmittels. Auch die Erhebung sogenannter „erlaubniserteilender Gedanken“, also Kognitionen, die zur Reduktion der kognitiven Dissonanz hinsichtlich des Konsums führen und somit die Handlungsausführung erleichtern, kann in diesem Abschnitt erfolgen. Bei Bedarf können die kurz- und langfristigen Folgen wie in der klassischen Verhaltensanalyse auch noch in interne und externe Konsequenzen unterschieden werden. Die Erhebung etwaiger labilisierender Bedingungen ermöglicht eine bessere Identifikation von Hochrisikosituationen, denen in der Rückfallprophylaxe eine entscheidende Rolle zukommt. Ein mögliches Formblatt der horizontalen Verhaltensanalyse des Substanzkonsums ist in folgender Abbildung dargestellt.

In der alltäglichen praktischen Durchführung dieser Bedingungsanalysen zeigt sich, dass Defizite im Bereich der Emotionsregulation, hier insbesondere der Angstbewältigung, einer der Hauptauslöser für den Substanzgebrauch darstellen. Weitere Ursachen sind Defizite in der Entspannungsfähigkeit, Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz und der Konfliktfähigkeit, der Wunsch nach intensiverem Erleben und ein Mangel an Strategien zur Freizeitgestaltung, sowie ein vermindertes Selbstwertgefühl. 

Aufbau von Alternativfertigkeiten

Durch obige Aufzählung ergibt sich, dass ein Hauptbestandteil der Behandlung der Suchtkrankheit im Aufbau von funktionalem Alternativverhalten zum Abusus besteht. Abhängig von den Hauptfunktionen des Abusus werden die Vermittlung von Fertigkeiten zur Emotionsregulation, der Aufbau von sozialen Kompetenzen und/oder die Verbesserung der Erlebensfähigkeit mittels einfacher Achtsamkeitsstrategien und Genusstrainings zentrale Bestandteile der Behandlung sein. Der Aufbau eines positiven realistischen Selbstbildes und die Erarbeitung von Tagesstruktur sollten ohnehin Bestandteil jeder psychotherapeutischen Behandlung sein.

Ablehnungstraining und Anticraving – Skills

Als Besonderheiten in der Behandlung von Suchterkrankungen seien noch das Ablehnungstraining und die Vermittlung von Anticraving – Skills erwähnt. In der Praxis hat sich die Notwendigkeit gezeigt, schwierige, mit dem Substanzgebrauch in Zusammenhang stehende soziale Situationen, wie das Ablehnen der Aufforderung zum Konsum, im Rollenspiel intensiv zu üben. Dadurch wird sichergestellt, dass die benötigten Fertigkeiten im üblichen Alltag auch tatsächlich zur Verfügung stehen.

Bei vielen Suchtkranken treten auch Craving – Attacken, ein als fast unwiderstehlich erlebtes Verlangen nach dem Konsum des Suchtmittels, auf. Zur Vorbereitung auf derartige Attacken dient die Vermittlung von Anticraving – Skills. So wird bei Auftreten von Craving, das oftmals als klassisch konditionierte Reaktion verstanden werden kann, das sofortige Verlassen der Situation und Ablenkung durch intensive Geschmacksempfindungen und/oder durch körperliche Betätigung eingeübt. Als weitere Strategie gilt das klassische „Durchziehen lassen“ der Craving – Welle. Darunter versteht man das bewusste Wahrnehmen und Lokalisieren des Suchtdrucks und des damit verbundenen Handlungswunsches, ohne diesen Handlungsimpuls auch in die Realität umzusetzen, verbunden mit positiver Selbstverbalisation hinsichtlich der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten.

Zur Löschung klassisch konditionierter Reaktionen im Hinblick auf Suchtmittel kommt „Cue – Exposure“ zum Einsatz. Diese Form der Expositionstherapie bedarf einer besonderen Vorbereitung und einer stabilen therapeutischen Beziehung, da sich der Klient oder die Klientin durch konfrontatives Vorgehen auch provoziert oder gedemütigt fühlen könnte.

Einen weiteren zentralen Bestandteil der Behandlung stellt die Bearbeitung suchtspezifischer Grundannahmen und suchtmittelspezifischer Erwartungen mit den Mitteln der kognitiven Umstrukturierung dar (Beck et al. 1997). Neben der Aufarbeitung automatischer Gedanken und dysfunktionaler Grundannahmen des Patienten über das eigene Selbst und die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten sollen besonders Annahmen über das Suchtmittel an sich, Annahmen über die Wirkung des Suchtmittels und erlaubniserteilende Gedanken identifiziert und verändert werden.

Die kognitive Umstrukturierung ist auch ein Hauptbestandteil der Rückfallprophylaxe gemäß dem sozialkognitiven Rückfallmodell (Marlatt & Gordon 1985). Neben der Identifikation und Veränderung rückfallspezifischer Kognitionen bilden die allgemeine Lebensstiländerung, der Aufbau von Bewältigungskompetenzen und die Identifikation von Hochrisikosituationen die weiteren Kernbereiche der Rückfallprävention.

Die Einbeziehung von Partnern bzw. Angehörigen aus dem näheren sozialen Umfeld in einem fortgeschritteneren Teil der Therapie ist mittlerweile „state oft the art“.  Auch auf die positiven Effekte der Nachbetreuung auf die Dauer der Abstinenz, egal ob in therapeutischen geleiteten Gruppen oder in Selbsthilfegruppen, sei gesondert hingewiesen.

In folgender Abbildung sind die Hauptkomponenten einer modernen, individualbasierten Alkoholismustherapie noch einmal abschließend dargestellt.

Evidenz des Ansatzes

Kognitiv – behaviorale Ansätze bzw. Interventionen, die diesem Spektrum zugeordnet werden können, stellen die therapeutische Basis für die Behandlung der Alkoholkrankheit dar (Walter et al. 2015).

Gemäß den S3_Leitlinien der DGPPN erreichen kognitiv verhaltenstherapeutische Ansätze das Evidenzniveau Ia: Evidenz aus einer Metaanalyse von mindestens drei randomisierten kontrollierten Studien. Auch bei der Behandlung von Doppeldiagnosen, im konkreten Fall dem Vorliegen einer alkoholbedingten Störung und einer Depression, lautet die Empfehlung, dass kognitiv – behaviorale Therapie angeboten werden soll. Auch im Rahmen der Post – akut – Behandlung wird die kognitive Verhaltenstherapie in den Behandlungsleitlinien empfohlen.

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