Verhaltenstherapie bei chronischen psychischen Erkrankungen (Rabenstein)

Rafael Rabenstein

rafael@rabenstein.net

Nahezu ein Drittel psychisch erkrankter Menschen haben mehr als eine Diagnose (Wittchen et al., 2011; Jacobi et al., 2014, 2015). Es ist also davon auszugehen, dass ein rein störungsspezifisches Vorgehen nur unzureichend Erfolg haben könnte. Dieses Kapitel stellt therapeutische Ansätze und Überlegungen für die Arbeit mit Menschen die mehrere Diagnosen, komplexe und chronische Krankheitsverläufe haben. Neben einem Störungsspezifischen Ansatz spielen hier eher transdiagnostische Überlegungen eine Rolle. Unser Zugang bietet hier ein hirarchischer Zugang an. Je nach psychosziialen Funktionsniveau sollen mögliche Interventionen skizziert und Behandlungsstrategien Abb. VI.11.1. vorgesetllt werden

In diesem Zusammenhang sei hier auf die ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health der WHO zu verweisen (Abb.: VI.11.2.) Im Mittelpunkt dieser Klassifikation steht Menschen zu ermöglichen aktiv ihr Leben zu gestalten und am sozialen Leben teilzuhaben. Und zwar unabhängig von körperlichen oder psychischeren Beeinträchtigungen, die zwar gemildert oder beseitigt werden sollen, aber nicht das einzige (Erfolgs-)Kriterium darstellen. Eine soziale und berufliche Partizipation und eine Möglichkeit dieses aktiv zu verfolgen sind wesentliche übergeordnete Ziele jeder Therapie. Dies erfolgt im Sinne des „Selbstmanagements“ und „Empowerments“, also der Ermächtigung eigene Ziele erfolgreich umzusetzen. Wichtig ist hierbei den soziokulturellen Kontext zu beachten und diese Ziele auf eine sozialverantwortliche Weise zu verfolgen.

Abb. VI.11.2.: ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO)

Dieser Ansatz wird vor allem in der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen genutzt. Es sind also störungsübergreifende Ziele definiert. Es gibt hierzu auch Fragebögen die als Verlaufsdiagnostik genutzt werden können (z.B. Mini ICF-P; Linden et al., 2005).

Abb. VI.11.1. Hierarchische, störungsübergreifende Behandlungsstrategien

Stufe 1: supportive und stützende Gespräche

Als unterste oder basalste Stufe stehen die Begleitung und Stützung von Patienten. Vor allem in Krisen und Extremsituation sind Interventionen die den Patienten stützen im Mittelpunkt. Der Schwerpunkt der Gesprächsführung ist hier validierende Gesprächsführung. Darüber hinaus ist der Therapeut im Sinne des „Case managements“ gefordert. Dies kann im Organisieren eines Ambulanzbesuchs oder stationäre Aufnahme liegen. Aber ebenso Beratungsstellen und andere psychosoziale Interventionen. Vor allem Patienten aus dem sozialpsychiatrischen Bereich benötigen oft basale Interventionen. Dies ist natürlich keine Psychotherapie im engeren Sinn, aber kann ein Bestandteil einer Therapie sein, vor allem in Krisen.

Stufe 2: verhaltenstherapeutische Basisinterventionen

Interventionen der 2. Stufe sind ebenfalls zur Stabilisierung und Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveaus geeignet. Das beginnt mit der Planung einer Tagessturktur, vermitteln von Copingsstrategien wie DBT-Skills, einfachen kognitiven Interventionen wie Realitätskontrolle. Wenn das Ziel der Stufe eins Krisenbewältigung ist, ist das Ziel von Stufe 2 Alltags- und Lebensbewältiung.

Psychoedukative Elemente sind ebenfalls ein zentraler Bestandteil dieser Phase/Stufe.

Stufe 3: Achtsamkeit und Akzeptanz

Einen nahtlosen Übergang von Stufe 2 zu Stufe 3 bilden einerseits Achtsamkeitsbasierte Interventionen, anderseits Akzeptanzfördernde Ansätze. Achtsamkeit ist im Sinne einer Copingsstrategie bei allen Problemen und Symptomen anwendbar, welche den Patienten belasten. Insbesondere Zwangsgedanken, Grübeln, Ängsten, Katastrophisieren und ähnlichem. Aber auch emotionale Zustände lassen sich mithilfe von Achtsamkeit regulieren. Dieser Zugang des bewartungsfreien Wahrnehmens fördert die Akzeptanz von emotional belastenden Situationen. Weitere Akzeptanzbasierten Intervention sollen den betroffenen helfen mit chronischen oder belastenden Leidenszuständen besser um zu gehen.

Stufe 4: Kognitive Interventionen

Kognitive Interventionen als störungsübergreifende und transdiagnostische Zugänge, stellen keinen Gegensatz zur Stufe 3, sondern einen weiteren Zugang zu belastenden Gedanken und Überzeugungen dar. Allerdings sind vor allem Strategien wie „voreiliges Schlüsse ziehen“ zu durchbrechen und ein Realitätscheck als Basisstrategie hier von Bedeutung, neben der Verbesserung der Selbstwahrnehmung. Je nach kognitiven Fertigkeiten und der „Mentalisierungsfähigkeit“ können alle kognitiven Interventionen eingebracht werden.  Erfahrungsgemäß gibt es große Unterschiede in der Praktikabilität.

Stufe 5: störungsspezifische und evidenzbasierte Verhaltenstherapie

Haben Patienten ein ausreichen hohes Funktionsniveau und eine nicht chronifizierte Achse I Störung ist der erste Ansatzpunkt natürlich in störungsspezifischen Ansätzen zu sehen. Wobei das die vorherigen Stufen nicht ausschließt, allerdings sollte jeder Patient ein störungsspezifisches Konzept als Mittel der Wahl angeboten bekommen, nur wenn dieser Ansatz zu früh, aufgrund einer Krise oder einer Einschränkung im psychosozialen Funktionsniveau hat sollen die darunterliegenden Stufen als störungsübergreifende Basisinterventionen integriert werden.

Stufe 6: emotionsfokussierte Interventionen

Sollten Patienten eine ausreichende störungsübergreifende oder störungsspezifische Behandlung erhalten haben und sich keine Besserung einstellt sollte überlegt werden emotionsfokussierte, transdiagnostische Zugänge zu integrieren. Traumata sind in diesem Zusammenhang nur zu sehen, wenn eine Störungsspezifische, evidenzbasierte Behandlung nicht zielführend war/ist. Das kann aber ebenso bedeuten, dass eine Traumatherapie an sich nicht möglich ist und eine psychosoziale Stützung und Stabilisierung eher indiziert sind. Es ist nicht immer möglich für betroffene eine Traumaexposition durch zu führen (z.B.: Chronische Psychosen, „Harm Reduction“ – Ansatz, etc.).

Literatur:

Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al (2014) Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt 85:77–87.

Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al (2015) Twelve-months prevalence of mental disorders in the German Health Interview and Examination Survey for Adults – Mental Health Module (DEGS1-MH): a methodological addendum and correction. Int J Methods Psychiatr Res.

Linden, M., Baron, S., (2005). Das „Mini-ICF-Rating für psychische Störungen (Mini-ICF-P)“. Ein Kurzinstrument zur Beurteilung von Fähigkeitsstörungen bei psychischen Erkrankungen. Die Rehabilitation Band 44 (S.144-151). Wien: Springer

World Health Organization- WHO (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health:  Short Version: ICF. Genf, WHO

Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J et al (2011) The ­size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. Eur Neuropsychopharmacol 21:655–679